Mit „Bittere Wasser“ hat Tina Pruschmann ein Werk geschaffen, das unglaublich vielschichtig ist und intensiv in die Zeitgeschichte geht. Ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt!

Zur Klimabuchmesse liest Autorin Tina Pruschmann aus ihrem Buch und diskutiert unter dem Thema „Mit Literatur Natur und Klima verstehen“ am Freitag, 28. April, um 19 Uhr in der WERK2 – Kulturfabrik.

Die Buchbloggerin Antje Tomfohrde hat das Buch für uns gelesen und ist begeistert.

Zeitgeschichte verpackt in einen Generationenroman

„Bittere Wasser“ ist die Geschichte der Menschen und des Ortes Tann im Erzgebirge. Es ist die Geschichte des Uranabbaus, des Schicksals der Bergleute und im Besonderen die Geschichte des Mädchens Ida, einem Zirkuskind. Und es ist ein Stück erlebte Zeitgeschichte.

Vom Zirkus ins Erzgebirge

Ida ist ein Zirkuskind und ihre Eltern wurden sogar auf einer Briefmarke verewigt als Artisten des DDR-Staatszirkus. Ihre ersten Jahre verbringt sie geborgen in der Liebe ihres Vaters in dieser besonderen Zirkuswelt,  reist herum und träumt davon, Elefantendompteurin zu werden.

Zur Einschulung wird sie jedoch nach Tann ins Erzgebirge zu ihrer Oma geschickt. Tann ist ein Ort geprägt durch den Uranabau der Wismut. Die Bergleute kommen in die Kneipe der Oma und trinken dort gegen ihre Angst vor der „Schneeberger Krankheit“, einem strahlenbedingten Lungenkrebs, an.

„Tann liegt in der Nachmittagssonne wie ein ausgeweidetes Tier. Förderbänder ziehen unablässig taubes Gestein aus der Tiefe, laden es auf die Abraumhalden, die zwischen den Häusern wachsen und sich in Wiesen, Felder, Wälder fressen.“

Ida verbringt ihre Jugend im Ort, gewinnt nur in Karsten einen Freund. Sie wird von den anderen nicht als eine der Ihrigen angesehen, sie ist anders, sie gehört nicht richtig dazu und ist immer irgendwie dazwischen, nicht komplett da. Doch auch wenn sie nicht dazu gehört, fühlt sie sich in ihrem Leben nicht unwohl.

„Solange sich Ida erinnern kann, ist zu Hause dort, wo das orangene Licht der Lichterketten scheint, die am Kopfende ihrer Betten hängen. Sie hängen im Wohnwagen über ihrer Matratze, wenn sie die Eltern auf Tournee begleitet, sie hängen über dem Kinderbett im Wohnheimzimmer, das sie in der Winterpause des Zirkus bewohnen, und seit fünf Jahren hängen sie bei den Großeltern im Haus Edith in der Leninstraße in einem Zimmer, das Ida gehört.“

Nach Kyjiw und zurück ins Erzgebirge

Nach der Wende wird der Zirkus abgewickelt, die Ehe ihrer Eltern auch und Ida zieht mit den Zirkuselefanten Judy und Hollerbusch nach Kyjiw, wohin sie nach dem Ende des Zirkus verkauft wurden.

Erst 2016 kehrt sie zurück, als ihr Vater ihr schreibt, dass er es alleine nicht mehr schafft. Tann ist anders geworden, es gibt einen Golfplatz, aber auch eine kanadische Firma, die sich für „Mineralien der Zukunft“ in Tann interessiert und Ida stehen große persönliche Veränderungen bevor.

„In Kyjiw konnte sie die Fremde bleiben, in Tann nicht.“

Was macht „Bittere Wasser“ so besonders?

Tina Pruschmann ist mit „Bittere Wasser“ nicht nur ein Generationenroman geglückt. Es ist auch eine Erzählung im eigentlichen Sinne – eine Geschichte mit Geschichte. Es ist Zeitgeschichte, die ich selbst erlebt habe. Der 26. April 1986, als die Welt wegen der Nuklearkatastrophe im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks den Atem anhielt, der Moment als die Mauer fiel, die Menschen auf dem Maidan in Kyjiw – alles Ereignisse, die innerhalb meiner eigenen Lebenszeit stattfanden und an die ich mich erinnern kann.

„Und Ida fährt eine Runde und noch eine, und der Wind kommt von Ost. Er bringt den zarten Duft der Apfelblüten mit, und sie breitet die Arme aus, legt den Kopf in den Nacken, schaut, wie das frische Grün der Kastanien vorüberfliegt, und zweitausend Kilometer entfernt, im Kontrollraum einer Atomstation, haben sich die Irrtümer an den Schaltknöpfen gesammelt, und ein Reaktor ist geborsten, und er glüht himbeerfarben und bildet Kristalle, hinreißende Kristalle, wie sie nirgendwo auf der Welt existieren, und es leuchtet schön, und der Wind kommt von Ost und treibt unerbittlich Wolken übers Land, und die Spatzen in den Hecken schweigen, und Idas Lippen schmecken nach Blei an diesem sechsundzwanzigsten April neunzehnhundertsechsundachtzig.“

Tina Pruschmann verwebt die Geschehnisse der Welt mit denen in Tann und stellt so eine Verbindung her zwischen Tschernobyl und dem Uranabbau, der die Landschaft und die Menschen zerstört, sie auf ihre Funktion als Uranlieferanten reduziert. Dies wird besonders deutlich, als Idas Großvater stirbt:

„Und als er dann da war, der Schatten auf dem Röntgenbild, haben wir genickt, als der Arzt gesagt hat, glauben Sie bloß nicht, dass der Krebs in Ihrem Fall aus dem Berg kommt, so oder so, hatte der Arzt gesagt, wären sie krank geworden, da schien er sich sehr sicher zu sein, der Arzt, denn schließlich hatte ihn die Wismut ja bezahlt.“

Vom Uranabau zum Golfplatz

Tann muss sich neu erfinden, als sich der Ostblock verabschiedet und für viele war es mehr als eine Wendezeit, es war ein komplett anderes Leben, mit dem die einen besser klar kamen, wie Idas Mutter Jutta, und die anderen schlechter, wie Idas Vater Georg. Dies beschreibt die Autorin eindringlich, auch wie es bei Ida einfach so weitergeht. Sie lässt sich treiben und die Zeit geht in Kyjiw auch für uns als Lesende einfach so vorbei, sie fließt und nimmt mit, was nicht fest ist, wie die Aach, der Fluss, der durch Tann fließt. Ida ist noch nicht da, wo sie hingehört.

„Was willst du vom Leben?“

Dies ist nicht nur die Frage, die Jewhen in Kyjiw Ida immer wieder stellt, sondern auch die Frage, die sich alle im Buch stellen und auch wir uns irgendwann stellen oder gestellt haben. Ein zentrales Thema, das Tina Pruschmann anspricht und das sich auch übertragen lässt. Was wollen wir für ein Leben – mit oder gegen die Natur?

„Und alle in diesem Transitraum schienen gewusst zu haben, welcher Ausgang der richtige wäre. Außer Ida. Ida war wie gemacht für dieses Dazwischen.“

Darum geht es auch in diesem Buch, den Platz finden, zu dem man gehört. Sich nicht fortspülen lassen von der Aach, dem Fluss, der alles fort trägt.

Tina Pruschmann, „Bittere Wasser“, ist 2022 beim Rowohlt Verlag mit 288 Seiten erschienen. Hier findet ihr auch eine Leseprobe.

Weitere Klimabuch-Tipps findest du in unserer Klimabuchliste.