Im Jahr 1986 veröffentlichte Ursula K. Le Guin ihr Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“. Darin plädiert sie für ein anderes Narrativ der Entwicklung der Menschheit. Anstelle der Erfindung und Verbesserung von Jagdwerkzeugen die entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Menschheit zuzuschreiben, rückt sie die Erfindung einer Form von Tragetasche oder eines ähnlichen Behältnisses in den Vordergrund – und damit nicht das Jagen, sondern das Sammeln. Der Fokus verschiebt sich weg vom Töten, d. h., etwas generalisierender ausgedrückt, weg vom Konflikt als zentralem Motiv der Menschheitsgeschichte, hin zu einem breiteren Blick auf das Leben im Allgemeinen. Denn während der einzige Zweck von Waffen im Erlegen von Beute oder im Töten von Feind:innen besteht, lässt sich in einer Tragetasche alles Mögliche verstauen. Im übertragenen Sinne hat darin ein ganzes Leben Platz und somit völlig unterschiedliche Geschichten.
Ein exemplarischer Blick ins Innere der Tasche
Rückwirkend betrachtet verfasste Le Guin mit diesem Essay eine Blaupause ihres ein Jahr zuvor erschienenen Romans Immer nach Hause (orig. Always Coming Home). Darin erzählt sie aus der Sicht einer jungen Anthropologin namens Pandora die Geschichte der Kesh, einem Volk, von dessen Angehörigen es direkt im ersten Satz des Buches heißt, sie „könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.“ (Le Guin, S. 13) Die Kesh leben im fiktiven Na Valley, das dem realen Napa Valley nachempfunden ist. Mit dem Unterschied allerdings, dass Na Valley in einer postkatastrophischen Welt verortet ist, die durch die Errungenschaften menschlichen Fortschritts vergiftet und zerstört wurde. Auf diese Weise hat sich auch die Bevölkerungsdichte stark verringert und kleine Verbünde wie die Kesh haben zu einem Leben zurückgefunden, das wieder viel stärker an die Natur angebunden ist. So sehen sich die Kesh als Menschen auch nicht mehr als über allem anderen stehend, sondern stattdessen als ein Volk (orig. „people“) unter vielen, wozu sie auch andere Lebe- und Nicht-Lebewesen zählen – etwa Pflanzen, Tiere und Flüsse. Zugleich besitzen sie immer noch fortgeschrittene Technologie, Solarpaneele und Computer, nutzen diese aber nur insoweit, als sie für ihr tägliches Leben tatsächlich nützlich sind. Ihr Umgang mit der sie umgebenden Welt ist somit einer des Miteinander-Verbunden-Seins.
Die Vielfalt des Lebens in einem einzigen Buch
Anstelle einer linearen Handlung bietet Le Guin in Immer nach Hause eine breite Übersicht über verschiedene Aspekte des kulturellen Lebens der Kesh. Ihr Roman wird damit zu einem Behälter, der in sich alle möglichen Geschichten verbirgt. Sie lässt ihre Erzählerin von der Kleidung, der Nahrung, den Musikinstrumenten, unterschiedlichen Tänzen und Ritualen, medizinischen Praktiken, den Spielen, Formen der Liebe, mündlichen und schriftlichen literarischen Gattungen, der sozialen Organisation, Wirtschaftsweisen, Kunstformen, kosmologischen Erzählungen und vielem mehr berichten, das das Leben der Kesh prägt. Dazwischen gibt sie Gedichte, Theaterstücke und kurze Erzählungen wieder, die Pandora während ihres Aufenthaltes bei den Kesh sammelt.
Eine Utopie im Spannungsfeld der Gegenwart
All diese Aspekte des Lebens der Kesh zeichnen sich dadurch aus, dass sie in direktem Bezug zu der mehr-als-menschlichen Welt stehen, in der die Kesh leben. Das Buch hat damit klar utopische Untertöne. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um eine naiv-romantisierte Darstellung indigenen Lebens in harmonischer Verbundenheit mit der Natur, denn auch in der Welt der Kesh gibt es innere und äußere Konflikte und existenzielle Bedrohungen. Außerdem wird deutlich, dass auch die Kultur der Kesh keine „natürliche“, sondern eine kontingente, d. h. willkürlich konstruierte ist. In diesem Sinne handelt es sich bei Immer nach Hause um eine kritische Utopie. Kritische Utopien zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass nicht die Darstellung eines idealen gesellschaftlichen Sollzustandes im Vordergrund steht, sondern das experimentelle Erforschen der Möglichkeiten und Bedingungen einer gemeinsamen, besseren Welt. Deshalb ist es wichtig, das Spannungsverhältnis zwischen gegenwärtigen und utopischen Zuständen aufzuzeigen. Andererseits rücken kritische Utopien auch fehlerhafte Prozesse und inhärente Konflikte in den Vordergrund, die solchen Entwürfen weiterhin innewohnen. In diesem Sinne geht es bei Immer nach Hause nicht darum, die Gegenwart durch eine als ideal gedachte Zukunft zu ersetzen, sondern die Zukunft als Resultat einer fortlaufenden Gegenwart neu zu denken. Dies wird durch die bereits weiter oben zitierte Beschreibung der Kesh als Menschen, die „einst […] gelebt haben werden [könnten]“, deutlich.
Eine bewohnbare Utopie
Während diese „Archäologie der Zukunft“, wie es in der Überschrift des ersten Kapitels heißt, die utopische Idee von Immer nach Hause auf der zeitlichen Achse in direkten Bezug zur Gegenwart setzt, ist es die Situierung der Erzählung in einem fiktionalisierten Napa Valley, die sie auch räumlich auf unserer Erde verortet. Dies ist insofern bedeutend, als Utopien seit ihrer Entstehung oft auf abgelegenen Inseln oder fernen Planeten angesiedelt waren, welche damit automatisch außerhalb unseres täglichen Daseins liegen und somit eher zur Zuflucht für eskapistische Träume denn reale Veränderungen wurden. Gerade in unserer heutigen, von Polykrisen geschüttelten Realität bedarf es jedoch utopischer Erzählungen, die uns nicht nur zum Träumen, sondern auch zum konkreten Handeln bringen. Und gerade darin liegt eine Stärke von Immer nach Hause. Denn durch den Fokus auf die Kunst und das alltägliche Leben der Kesh wird die hier geschilderte Utopie gleichermaßen als bewohnte und bewohnbare Welt dargestellt. Eine Welt also, die nicht in klarem Kontrast zur unsrigen steht, sondern eine, in der auch wir leben könnten.
Anmerkungen zur deutschen Erstübersetzung
Es hat nahezu 40 Jahre gedauert, bis dieses Meisterwerk seinen Weg ins Deutsche gefunden hat. Doch das Warten hat sich eindeutig gelohnt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die Übersetzung 2023 gleich in zwei Kategorien mit dem renommierten Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurde: bestes ausländisches Werk und beste Übersetzung. Die umfangreiche deutsche Ausgabe wird dabei durch eine 2017 von Le Guin verfasste Erweiterung ihres Romans sowie einigen ihrer Essays, darunter auch „Die Tragetaschentheorie des Erzählens“, die in direktem oder indirektem Bezug zu dem Werk stehen und einen umfassenderen Einblick in Le Guins Schaffen gewähren, ergänzt. Sprachlich ist die Übersetzung von Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch ein Glanzstück – ganz besonders, weil sie die stellenweise Sperrigkeit des Originals nicht glättet, sondern kongenial ins Deutsche überträgt. Laut der Erzählerin Pandora handelt es sich bei Immer nach Hause in Teilen um eine Übersetzung aus der fiktiven Sprache der Kesh. Einer Sprache, die, wie jede Sprache, viel von der Kultur ihrer Sprecher:innen transportiert und somit eine große Herausforderung für Pandora/Le Guin, ihre Übersetzerin, darstellt. Es ist somit nur passend, dass die zugleich vertraute und unvertraute Lebenswelt der Kesh in Phrasen und Formulierungen daherkommt, über die das Auge immer wieder stolpert, über die wir unseren Blick zweimal schweifen lassen müssen, um ihren Sinn zu verstehen. Doch gerade dieses ungewollte Verweilen eröffnet auch auf sprachlicher Ebene die Möglichkeit einer eingehenden Auseinandersetzung mit Le Guins kritisch-fantastischer Zukunftsutopie.
Wir freuen uns sehr darauf, dass die Übersetzerin Karin Nölle am diesjährigen Utopie-Panel der Klimabuchmesse teilnimmt (Samstag, den 29.03. ab 21:00 Uhr im Westbad Leipzig) und mit uns über „Immer nach Hause“ sprechen wird!