Hat ein Baum Rechte? Können Flüsse, Berge und Wälder als Rechtspersonen vor Gericht auftreten? Auf den ersten Blick erscheint diese Idee ungewöhnlich. Doch sie ist nicht neu – und ihre Umsetzung könnte helfen, den dramatischen Verlust der Artenvielfalt und die Zerstörung unserer wertvollen Ökosysteme zu stoppen. Dies ist eine zentrale These der Autorinnen und Autoren des Buches „Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. Eine neue Perspektive für den Naturschutz?“, herausgegeben von Matthias Kramm (oekom). Hobbybiologin Anetta Ewa Trojecka hat das Buch gelesen und für die Klimabuchmesse rezensiert.
Wille der Natur weltweit
Im ersten Kapitel erfahren wir, warum die Natur eigene Rechte erhalten sollte. Anschließend nehmen uns die folgenden Beiträge mit auf eine Reise rund um die Welt: von Lateinamerika über Neuseeland bis hin zur spanischen Lagune Mar Menor. Dabei begegnen wir den Ursprüngen des Gedankens, dass lebenswichtige Ökosysteme dem anthropozentrischen Streben nach Macht und Gewinn widerstehen müssen. Der Vorschlag lautet, die Natur in Verfassungen und vor Gericht als eigenständige Rechtssubjekte anzuerkennen. Zudem wird uns bewusst, dass der Kampf indigener Völker um die Rechte der Natur auch eine Form des Widerstands gegen koloniale Ausbeutung ihrer existenziellen Lebensgrundlagen darstellt.
Der Lebendige Wald
Natur und Kultur sind bei den indigenen Völkern Südamerikas und Neuseelands eng miteinander verflochten.
Es ist daher kein Zufall, dass Ecuador das erste Land war, das die Rechte der Natur, der Pacha Mama, in seine Verfassung aufgenommen hat. Oft wird Pacha Mama als „Mutter Erde“ übersetzt, doch der Begriff umfasst weitaus mehr. Wie viel mehr, können wir erahnen, als wir im zweiten Kapitel den Lebendigen Wald in der ecuadorianischen Region Sarayaku kennenlernen. Dort koexistieren mehrere indigene Stämme, die sich das Gebiet und dessen Naturschätze teilen.
Sie verbindet der Glaube an magische Wesen und die Weisheit von Pflanzen und Tieren. Die Beschreibung des interkulturellen Dialogs und der Regeln eines guten Lebens im Lebendigen Wald mutet an wie das Szenario eines Live-Rollenspiels.
Rechtsprechung für die Eigenrechte der Natur
Zurück in Deutschland erfahren wir im dritten Kapitel, dass auch hier die Diskussion über die Rechte der Natur keineswegs neu ist. Besonders im Rahmen von Entwürfen für eine ökologische Verfassung wird das Thema heftig debattiert. Anmerkung der Rezensentin: Ein wichtiger Präzedenzfall, der im August 2024, also erst nach dem Erscheinungsdatum des Buches, bekannt wurde, könnte die Debatte weiter befeuern: Ein Richter am Landgericht Erfurt berücksichtigte die Natur als schützenswerten Subjekt in der Begründung seines Urteils im Dieselverfahren.
Obwohl die Entscheidung umstritten ist, markiert sie einen entscheidenden Schritt. Denn die neue Rechtsprechung will nicht nur
„dem bestehenden Rechtsinstrumentarium ein weiteres legales Werkzeug zum Schutz der Umwelt hinzufügen. Vielmehr gehe es auch darum, ein Umdenken zu fördern, in dem der Mensch sich nicht mehr als Zentrum des Universums sieht, sondern von der Natur her denkt.“
Philosophie und Kunst zur Überwindung des Anthropozäns
Während der Lektüre stellen sich die Autorinnen und Autoren, darunter Juristinnen und Philosophen, die Frage, ob Menschen die Natur angemessen vertreten können, ohne ihre eigenen Interessen zu sehr in den Vordergrund zu rücken.
„Wie sieht es also mit dem Willen der Natur aus? Hat ein Fluss den Willen, das Meer zu erreichen? Oder will ein Wald sich gegen Schädlinge verteidigen?“
In diesem Zusammenhang kommt im viertel Kapitel die Frage auf, ob eine „Vermenschlichung der Natur“ notwendig ist, damit die Natur subjektive Rechte erhält.
Zudem wird hier auch die Sorge diskutiert, ob die Natur als juristische Person die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse stark einschränken könnte. Daher lohnt es sich bereits im zweiten Kapitel nachzulesen, wie dieser scheinbare Widerspruch anhand des Beispiels des Río Atrato in Kolumbien durch das Konzept biokultureller Rechte aufgelöst wird.
Im letzten Teil des Buches werfen wir einen Blick auf weitere, scheinbar unlösbare Widersprüche – dieses Mal aus der Perspektive des Theaters. Der Dramaturg Frank-M. Raddatz untersucht in einer kunstvollen, theatergeschichtlichen und philosophischen Abhandlung, welche Rollen der Natur von der Antike bis heute zugeschrieben wurden. Beeindruckend wird hier die verhängnisvolle Trennung von Mensch und Natur bereits zu Lebzeiten des Philosophen Pythagoras aufgezeigt. Sie resultierte – nicht nur im Theater – in der Degradierung der Natur vom Akteur zum bloßen Requisit. Doch gleichzeitig wird uns die Kraft des politischen Theaters bewusst, das als Wegbereiter einer neuen Ära dienen könnte – einer Ära, die nach dem Anthropozän anbricht und in der Mensch und Natur wieder in Einklang leben.
Wie es geht, könnt ihr euch in der Aufführung Anwälte der Natur vom Theater des Anthropozäns unter der Leitung von Frank-M. Raddatz überzeugen lassen: https://theater-des-anthropozän.de
„Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. Eine neue Perspektive für den Naturschutz?“, herausgegeben von Matthias Kramm, Oekom-Verlag, 2023, 112 Seiten, ISBN: 978-3-98726-039-1.
In der Leseprobe könnt ihr einen Blick ins Buch werfen.
Weitere Klimabuch-Tipps findet ihr in unserer Klimabuchliste.