Tochter des Regenwaldes ist ein autobiografisches Werk, das tief berührt und zugleich fesselt. Nemonte Nenquimo und Mitch Anderson erzählen die Geschichte einer jungen Waorani-Frau aus dem ecuadorianischen Regenwald, die sich dem scheinbar aussichtslosen Kampf gegen Umweltzerstörung und kulturelle Auslöschung stellt. Anetta hat sie für uns gelesen und rezensiert.
Verlust der Kindheit, Verschwinden der Heimat
Wir begegnen Nemonte als kleines Mädchen, das neugierig und fasziniert den cowori – weißen Missionaren – entgegenläuft, die mit dem Flugzeug in ihrem Dorf landen. Ihre makellosen Zähne, ihre Geschenke, ihr Gott: All das erscheint dem Kind anziehend, zugleich aber auch fremd. Diese ersten Begegnungen markieren den Beginn eines schleichenden, zerstörerischen Einflusses. Dieselben Missionare, die einst lächelnd Bibeln verteilten, öffnen später die Türen für die Ausbeutung des Regenwaldes durch Ölkonzerne – und mit ihm die Zerstörung der Heimat vieler indigener Völker.
Nemonte erzählt offen von den tiefgreifenden Verletzungen, die sie erlebt: Als junge Frau verlässt sie ihr Dorf, wird von einer missionarischen Familie aufgenommen – und erfährt dort sexualisierte Gewalt. Dieses Trauma wird sie noch lange verfolgen.
Stille Stimmen aus dem Regenwald, die laut werden
Doch Tochter des Regenwaldes ist nicht nur ein Bericht über Leid. Es ist auch die Geschichte einer beeindruckenden Frau, die ihren Schmerz in Kraft verwandelt, die niemals aufgibt und ihre Stimme erhebt – für ihr Volk, für den Regenwald und für zukünftige Generationen.
Trotz Rückschlägen und Enttäuschungen findet Nemonte Halt in ihrer Familie und in ihrer Gemeinschaft. Sie erkennt ihre Berufung: den Schutz des Lebensraums ihres Volkes und die Bewahrung einer indigenen Kultur, die zunehmend durch Ölbohrungen, Landraub und Korruption bedroht ist. Was aussichtslos scheint – angesichts der langjährigen Zerstörung lokaler Gemeinschaften und ihrer Entfremdung voneinander – gewinnt neue Hoffnung, als Nemonte auf den US-amerikanischen Journalisten Mitch Anderson trifft.
Gemeinsam mit Familie und Freund*innen gründen sie eine Organisation namens Amazon Frontlines und bringen die verschiedenen vom Ölgeschäft betroffenen Stämme zusammen.
Es gelingt ihnen, die Menschen zu inspirieren, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen, ihre Rituale, aber auch juristische Mittel zu nutzen. Bald wird nämlich klar: Der Widerstand braucht rechtliche Wege. Denn es geht um alles: um die Wälder, das Wasser, das Überleben ihrer Kinder. Um ein Leben in Einklang mit ihren Traditionen und mit der Natur.
„Der Konzern holte das Öl aus unseren Wäldern und verschmutzte unsere Wasserquellen. Das Öl wurde in die Städte gebracht, damit die Weißen Auto fahren und fliegen konnten, während wir Waorani-Frauen sich im staubigen Schatten des Stacheldrahts erniedrigen und um Wasser betteln mussten.“
Vor dem Gerichtsprozess dokumentieren sie den kulturellen und biologischen Reichtum der vom Abbau bedrohten Region – insbesondere im sogenannten Block 22, der ins Visier der Ölindustrie geraten ist. Eine Bezeichnung, die profan, nahezu blasphemisch erscheint für die Schätze, die bald uns verlorengehen könnten. Der darauffolgende juristische Kampf bringt internationale Aufmerksamkeit.
Hoffnung im Widerstand: Es geht um uns alle
Für mich steht außer Frage: Nemontes Kampf ist auch unser Kampf. Weltweit werden indigene Völker entwurzelt, unterdrückt und ausgebeutet. Man zwingt sie, einen westlichen Lebensstil zu übernehmen – oft im Namen des Fortschritts oder wirtschaftlichen Wachstums. Was dort geschieht, geschieht in globalem Maßstab, geschieht auch bei uns: durch den ungebremsten Ressourcenverbrauch, durch ein wachstumsfixiertes Wirtschaftssystem, durch Konzernmacht, die sich Einfluss erkauft – damals bei Öl, heute bei Daten.
Das Buch stellt uns eine unbequeme Wahrheit vor Augen: Der Kolonialismus hat nie wirklich aufgehört. Er hat nur seine Form geändert. Er tarnt sich heute als Fortschritt, als Innovation, als Effizienz. Doch seine Wirkung ist dieselbe: Entwurzelung, Vereinzelung, Erschöpfung.
„Um an das Öl unter unseren Wäldern zu gelangen, müssen sie uns erst entzweien. Das ist ihre einzige Chance. Sie müssen die Gemeinschaft zerstören, unsere Verbindung mit dem Wald, uns zu Bettlern zu machen. Uns davon überzeugen, dass wir zum Überleben ihr Geld brauchen, ihre Pillen, ihre Dinge.“
Nemonte Nenquimo und ihre Mitstreiter*innen sind für mich ein Vorbild. Sie zeigen, dass Widerstand möglich ist – auch gegen übermächtige Gegner. Ihr Mut, ihre Entschlossenheit und ihr tiefer Sinn für Gerechtigkeit erinnern uns daran, was es zu verteidigen gilt: unser Gemeinwohl, unsere Demokratie und die Grundlagen allen Lebens.
Nemonte Nenquimo, Mitch Anderson: Tochter des Regenwaldes. Heyne / Penguin Random House Verlagsgruppe Verlagsgruppe, 2024, 400 Seiten,
978-3-453-21836-9
Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen, Katharina Uhlig
