In seinem Buch „Unsere Wälder. Wie sie sind, wie sie sein könnten“ legt der renommierte Naturfilmer Jan Haft keine bloße Begleitbroschüre zu schönen Waldbildern, sondern einen kongenialen Text vor. Es lädt dazu ein, über unsere Vorstellungen vom „richtigen“ Wald – und über die fatalen Folgen dieser Vorstellungen für die Artenvielfalt – nachzudenken. Es hinterfragt auch die festgefahrenen Narrative, sowie emotionalen Projektionen, was wir als gesunden oder schönen Wald bezeichnen.
Schnell wird klar: Der Wald, wie wir ihn kennen, ist kein Naturzustand, sondern ein kulturell geprägtes Bild. Viel zu häufig, so Haft, ist dieses Bild von wirtschaftlichen Interessen bestimmt – insbesondere durch die Holzindustrie, deren Ideal eines „aufgeräumten“ Waldes dem Artenreichtum keinen Platz lässt.
„Nach wie vor wird vom Naturschutz der gesunde, dichte Mischwald auf den Schild gehoben, in dem freilich ein paar tote Bäume voller Pilzkonsolen am Boden liegen, der aber dennoch ein mehr oder weniger geschlossenes Kronendach aufweist, was die Mehrheit der potenziellen Mitlebewesen ausschließt.“
Eine Leitfrage des Buches lautet daher: Wie sähe der Wald heute aus, wäre er vom Menschen unberührt geblieben? Um dieser Frage nachzugehen, nimmt Jan Haft uns mit auf eine Reise durch deutsche, aber auch europäische und nordamerikanische Waldlandschaften. Dabei steht stets die Artenvielfalt im Mittelpunkt – nicht nur in der Gegenwart, sondern auch mit einem Blick in die Vergangenheit.
Faszinierend ist Hafts Versuch, mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Methoden wie Pollenanalysen oder Sporenfunden der Gattung Sporormiella eine Zeitreise in die Wälder vor 120.000 Jahren zu unternehmen – eine Zeit, in der Mammuts, Waldelefanten, Wildpferde und Nashörner den Wald mitgestaltet haben. Diese Großsäuger verschwanden durch den Menschen, und werden, so der Autor, nie zurückkommen. Gleichzeitig sieht er Hoffnung in der Rückkehr großflächiger Waldbeweidung: Rinder, Pferde und Wisente könnten als „Ersatzfauna“ wieder wichtige ökologische Funktionen übernehmen.
„Wir sollten systematisch beginnen, unsere Naturschutzflächen und ökologischen Ausgleichsflächen mit Rindern und Pferden zu pflegen und nicht mehr mit zerstörerischem Mähgerät.“
Haft spart dabei nicht mit Kritik: Die gängige Auffassung, ein guter Wald bestehe aus möglichst vielen gesunden Bäumen, sei ein Produkt rein ökonomischer Überlegungen – und leider längst auch im Naturschutz angekommen. Die Folgen sind dramatisch: Viele einst häufige Arten haben heute keinen Lebensraum mehr.
Die Reise durch die Wälder bleibt aber nicht theoretisch. Immer wieder begeistert Haft mit anschaulichen Naturphänomenen: Da geht es um Totholz, das als Lebensraum neu entdeckt wird, um die Rückkehr der Wölfe oder um die positiven Seiten von Waldbränden. So zum Beispiel beim Schwarzen Kiefernprachtkäfer, der auf abgebrannte Baumrinde angewiesen ist. Haft bringt es pointiert auf den Punkt:
„Keine vermeintliche Katastrophe ohne Nutznießer! Jedes Ereignis, jede Katastrophe, die einen Wirtschaftswald negativ beeinflusst, fördert die Natur.“
Auch ästhetisch hält das Buch, was man von einem Naturfilmer erwarten darf. Die beschriebenen Bilder – vom Distelfalter auf Wolfslosung bis zum Hirschkäferkopf als Kinderstube für eine Ameisenkönigin – sind intensiv, manchmal schockierend, aber immer berührend. Ergänzt werden sie durch Einblicke in die Kunst der Naturfotografie. So etwa bei der Szene eines röhrenden Hirsches, dessen Atem in der Morgensonne kondensiert – ein Moment voll Schönheit, Demut und Dankbarkeit.
Immer wieder verknüpft Haft die Naturbeobachtungen mit größeren Fragen: Wie wollen wir künftig mit unseren Wäldern leben? Welche Waldformen brauchen wir wirklich – nicht nur für Erholung oder Holzproduktion, sondern auch und gerade für den Schutz der Artenvielfalt? Die Beispiele reichen von Offenlandprojekten wie der Döberitzer Heide bis zu Weidenwäldern am Oberrhein.
Die Antwort im Epilog überrascht dann kaum noch:
„Den Wald der Zukunft gibt es nicht, wie es auch heute den Wald nicht gibt.“
Jan Hafts „Rezept“ zur Rettung der biologischen Vielfalt ist das Ergebnis jahrzehntelanger Naturbeobachtung, filmischer Arbeit und wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Was es genau enthält, wird hier nicht verraten – dafür lohnt es sich, das Buch selbst zur Hand zu nehmen.
„Unsere Wälder“ ist laut unserer Rezensentin Anetta Pflichtlektüre für alle, die den Wald lieben – und ihn endlich als das verstehen wollen, was er sein kann: ein dynamischer, artenreicher, zutiefst faszinierender Lebensraum jenseits wirtschaftlicher Nutzungslogik.
Jan Haft, Unsere Wälder. Wie sie sind, wie sie sein könnten: Ein anderer Blick auf das Zusammenleben von Mensch, Tieren und Pflanzen
Penguin, Oktober 2024, 256 S.,
978-3-328-60363-4